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Warum Laufen? – Christoph Sander

Warum Laufen?

„Warum läufst Du?“ – das ist wohl die interessanteste Frage, die einem Läufer in einem Interview gestellt werden kann. Eine Antwort darauf zu geben, ist zumeist nicht leicht – oder doch?

Mir persönlich fällt die Beantwortung immer ganz schwer und schon beim Hören der Frage fallen mir Dutzende mögliche Antworten ein. Diese reichen von „ich kann gar nicht anders“ über „es gehört eben dazu“, „das mache ich halt schon immer“ bis hin zu einem einfachen und klassischen „weil’s mir Spaß macht“ oder „um etwas zu erreichen“. Tatsächlich stimmt wohl von allem etwas und doch frei nach dem Motto „das Ganze ist mehr, als die Summe seiner Einzelteile“ auch wieder gar nichts.

Je mehr man über die Beantwortung der Frage nachdenkt, desto mehr beginnt man zu philosophieren und desto verworrener werden die Antworten. Die Begründung, warum ich mit 28 Jahren zu jedem Zeitpunkt meines Lebens dem Laufen gegenüber meiner Ausbildung oder einer Vollzeit-Berufsausübung den Vorzug geben würde, kann ich aber vielleicht durch meinen sportlichen Werdegang erläutern.

Was Sport und die Leichtathletik an sich betrifft bin ich sicherlich „vorbelastet“. Mein Vater war ein national erfolgreicher Mittelstreckenläufer und anschließend mehr als 20 Jahre als Verbandstrainer für die Nachwuchsläufer in Österreich zuständig. Meine Mutter schaffte es als Feldhockeyspielerin zu zwei Weltmeisterschaften und erzielte u.a. in einem denkwürdigen WM-Spiel gegen die eidgenössischen Nachbarn aus der Schweiz das Siegestor. Durch die Trainertätigkeit meines Vaters kam ich immer schon mit zum Vereinstraining und hatte in den Kinder- und Jugendgruppen viel Spaß beim Erlernen der Mehrkampf-Fähigkeiten. Ob meiner schmächtigen Figur war ich aber gerade im pubertären Alter meinen Altersgenossen in Wurf und Sprung unterlegen, weswegen mich das Laufen immer schon mehr faszinierte.

Mit Verlassen der Nachwuchsgruppe und dem Wechsel zu meinem Vater als Lauftrainer, entstand 2005 wie aus dem Nichts der Wunsch, Hindernisläufer zu werden. Ich weiß nicht, ob es die damals so erfolgreichen – wenn auch mitunter unglücklichen – Auftritte von nationalen Vorbildern à la Weidlinger oder Pröll waren, die mir dieses Hirngespinst einbrachten. Auch das was mich heute so an dieser Disziplin fasziniert, nämlich ein Rennen im Höchsttempo mit 35 gegen Ende eines jeden Laufes scheinbar immer höher werdenden Hindernisse zu bestreiten, und dann bei den meisten Überquerungen im Feld den Bock gar nicht wirklich vor sich zu sehen, war es (noch) nicht. Es war vielmehr die Erkenntnis, über diese Strecke in Österreich etwas „reißen“ zu können. Na klar, da ist es wieder: man läuft nur für den Erfolg.

Mit der Zeit wurde aber immer deutlicher, dass mir der Hindernislauf einfach liegt, und viele Stimmen von außen bestätigten mir mein subjektives Empfinden, über die Böcke verhältnismäßig besser aufzutreten, als auf anderen Mittel- und Langstrecken. Als ich 2010 zum ersten Mal bei den Crosslauf-Europameisterschaften und auch im Rahmen des U23-Länderkampfes erstmals auf der Bahn international im Nationaldress auftrat, war dann für mich endgültig klar, dass ich einen schon lange in mir wachsenden Traum über 3000m Hindernis erfüllen will:

Ich will zumindest ein Mal in meinem bei einem internationalen Großereignis auf der Bahn am Start stehen, das rot-weiß-rote Dress am Leib und im Moment, wo die Kamera auf mich zukommt, stolz auf den Schriftzug „Austria“ zeigen!

Dem geht vor allem das meiner Vorstellung nach geilste Gefühl eines Distance-Runners überhaupt vor – jenes im Moment der Erfüllung des Limits und die echte Qualifikation zum Großevent! Da wäre es mir egal, ob EM, WM oder gar Olympia – aber ein Mal nur möchte ich dieses Feeling bekommen und mich für die mittlerweile unzähligen tausenden Laufkilometer, die Stunden des Krafttrainings und die ganzen viel zitierten „Entbehrungen“ eines Leistungssportlers belohnen!

Wenn man also so will, laufe ich für diesen einen Moment. Diesen Moment, wo man sich einen Lebenstraum erfüllt. Diesen Moment, den man später, sollte man Kinder und Kindeskinder haben, ihnen allen erzählen wird und den man dann doch nur für sich selbst hat. Einfach für den Moment, für den man als Läufer tagtäglich seine Schuhe schnürt – egal, ob es draußen minus 5 Grad und gefrierenden Schneeregen, oder eben plus 35 Grad und nicht eine Wolke am Himmel hat.

Und was so schön daran ist, jeden Tag seines (Sportler-)Lebens mit der Erfüllung seines eigenen Traums zu verbringen, sind die vielen „Begleiterscheinungen“. Man bereist fremde Länder zum Trainieren und Wettkämpfen, lernt ständig neue Leute kennen, verbringt mit anderen sein halbes Leben auf und abseits des Sportplatzes, wächst durch Niederlagen, wird stark durch Frusterlebnisse, schöpft Hoffnung aus dem Erfolg.

Viele Marathoni beschreiben einen Marathon als „Schule des Lebens“, da man auf  den 42,195km so viele Höhen und Tiefen – physisch wie pyschisch – durchlebt, wie man sie sonst selten auf so kurze Zeit komprimiert erfährt und verarbeiten muss. Ich gehe da sogar einen Schritt weiter: denn Laufen, Trainieren und die Erfüllung meines Traumes stellen in meinen Augen eine Charakterschule dar, deren Inhalte man nirgendwo sonst auf eine so harte und ehrliche Weise gelehrt bekommt.

Laufen hat mir geholfen, eine Identität zu finden. Es ist etwas, das ich (fast) jeden Tag mache, meine Leidenschaft, meine Passion. Ein Tag ohne Laufen, fühlt sich nicht richtig an. Wenn ich einen ungeplanten Ruhetag einschieben muss, liege ich oft lustlos herum, und frage mich, ob ich nicht doch noch raus soll – womöglich in den Sturm, in die Kälte oder die Nacht. Wenn ich nicht mehr laufen könnte, würde mir es so fehlen, wie wenn ein geliebter Mensch verstirbt… insofern ist es nicht verwunderlich, dass auf eine scheinbar so leichte Frage, keine ehrliche und vor allem prägnante Antwort gegeben werden kann.

Denn im Endeffekt, ist es bei mir wie mit anderen Tätigkeiten des Alltags: ich esse, weil ich hunger habe, trinke, wenn ich durstig bin, schlafe, wenn ich müde werde. Und ich laufe, weil ich einfach gar nicht anders kann, als bei jedem Wetter, bei jedwedem Gemütszustand und körperlicher Verfassung die Schuhe zu schnüren, und einfach „raus zu gehen“.

Ich laufe, weil ich nicht anders kann. Ich laufe, weil es mir trotz allem viel mehr gibt, als es jemals nehmen kann. Ich laufe, weil es mein Leben – und gleichzeitig mein größter Traum ist.