Da stehe ich wieder. Vor einem Spiegel. Schmal aber lang.
Doch dieses Mal in keinem Hotel, sondern im Aufzug im Altbau, in dem ich im Herzen Wiens aufwuchs.
Der Lift bringt mich hinauf. Real.
Metaphorisch geht es eher in die inverse Richtung.
Ich stehe da mit Shirt und Short und betrachte vor dem Drücken des Stockwerks meinen Körper.
Der Blick geht Richtung Extremitäten. Zunächst Richtung obere Extremitäten.
Linke Ellenbeuge: kleines Pflaster.
Dann schweift der blick Richtung untere Extremitäten.
Rechtes Knie unterhalb der Patella: großes quadratisches Pflaster.
Linkes Knie unterhalb der Patella: großes quadratisches Pflaster.
Ihnen gemein ist die Ähnlichkeit mit der japanischen Flagge: viel weiß und in der Mitte ein einzelner, roter Punkt. Mein Blut, mein Eigenblut.
Schuld an dem Blick in den Spiegel wie an den japanischen Flaggen auf meinen Knien ist eine weitere ACP-Injektion. Oder besser: gleich zwei. Links und rechts eben.
ACP, das Eigenblutdoping ohne leistungssteigernden Gedanken, ist der letzte Strohhalm, an ich mich nun echt schon verzweifelt klammere.
Vor rund zwei Stunden gab es die dritte Injektion innerhalb von zwei Wochen. Dieses Mal im gebeugten Zustand, was die Sache proportional unangenehmer macht… aber gut, ACP soll eben die Rettung sein – nicht die metaphorische, sondern die reale! Wenn das doch bitte möglich wäre…
Ich drücke auf den Knopf.
Der Aufzug nimmt Fahrt auf, bleibt aber bald wieder Stehen. Was für ein Sinnbild!
Na gut, der zweite Stock ist nun mal auch nicht der letzte – selbst mit Halbstock – in meinem bürgerlichen Elternhaus Mezzanin genannt – sind es eben nur drei Stöcke bis der Lift wieder anhält.
Normalerweise würde ich die paar Stockwerke auch laufen. Im Wettlauf mit der so weit wie möglich aufgestoßenen Eingangstür: „wie weit komme ich, bevor die schwere Eisentüre und ihr Schloss sich wieder vereinen?“ Vermutlich 1.000 Mal gemacht – heute nicht. Generell: schon länger nicht. Es geht ja auch schon länger nicht mehr, das Laufen.
Daher bin ich heute auch dankbar für den Aufzug. Wenngleich der Blick ins eigene Spiegelbild mir alles andere als gut tut. Ich sehe – wie vor einigen Wochen – einen beinahe schon gebrochenen Sportler, der von der Ausübung seiner großen Leidenschaft so weit entfernt ist wie selten zuvor. Und das will was heißen, gab es doch fast auf den Tag genau vor zwei Jahren eine Operation…
Was tue ich also momentan nicht alles dafür, irgendwann wieder meiner Leidenschaft nachgehen zu können. Beispielsweise eben den Auszug aus den eigenen vier Wänden, da die dortigen drei Stockwerke – ohne Aufzug! – im Moment nicht machbar sind.
Alleine die Schmerzen bei den ACP-Injektionen reichen normalerweise schon für eine ganze LA-Saison. Der Laie stelle sich vor, jemand rammt einem eine Nadel auf eine unfassbar druckempfindliche Stelle seines Körpers, injiziert dann eine Substanz. Die Injektion wäre ja gar nicht das schmerzhafte – doch sie erfolgt gleich mehrmals an verschiedene Stellen. Eben jene, mit den meisten Schmerzen. Auf gut wienerisch „furdelt“ der Mediziner somit mit der Nadel an deinen Schmerzpunkten richtig unangenehm rum. Während das beim ersten Knie noch halbwegs zu ertragen ist, sieht es beim Zweiten schon anders aus. Heute zitterte ich am ganzen Körper noch bevor die Nadel angesetzt wurde. Der Oberhammer ist jedoch, dass man meist relativ schmerzfrei (Achtung: NICHT beschwerdefrei!) zur Behandlung erscheint, und sich nachher am liebsten in einen Rollstuhl setzen würde. Jedoch mit ausgestreckten Beinen, denn die ersten 2-3 Tage nach der Injektion ist jede Beugung im Knie ein Horror. Und wer sich denkt: „ach, dann lässt man das doch einfach“, der möge das mal eine Stunde im Alltag ausprobieren…
Neben den Injektionen gibt es noch Physiotherapie, an deren Nutzen ich aber aktuell nicht mehr glauben kann, was gleichzeitig deren Durchführung ein wenig ad absurdum führt…
Die mehrmals tägliche Einnahme von diversen Präperaten zur Unterstützung des Sehnenaufbaus, zur Durchblutungsförderung oder gegen Entzündungsreaktionen im Körper im Allgemeinen ist alles andere als angenehm. Aber zumindest nicht schmerzhaft…
Apropos schmerzhaft. Ich stoße die Aufzugstüre auf und nähere mich schmerzhaften Schrittes der Haustüre. Innen angekommen gilt mein erster Weg meinem alten Bett im sich mittlerweile stark veränderten Kinderzimmer, in dem ich 23 Jahre meines Lebens schlief. Vieles ist anders, gleich sind die von der Wand baumelnden Urkunden, die ich im Laufe der Jahre bei österreichischen Meisterschaften und Staatsmeisterschaften gesammelt habe und so lange aufgehängt habe, wie ich Quadratmeter freie Wand zur Verfügung hatte.
Ich liege da und starre auf die Urkunden. Manche erinnern mich an wunderbare, überraschende Rennen. Andere lassen mich an den Wettkampftag zurückdenken und rufen eine Art von Trauer hervor.
„Warum bin ich nicht marschiert?“
„Warum habe ich nicht mehr riskiert?“
Es ist Trauer gemischt mit Unverständnis über das eigene Handeln.
Irgendwie seltsam.
Eigentlich sogar unglaublich.
Unglaublich passend nämlich.
Ich bin mit den nahe zur Bettkante hängenden Urkunden durch und erkenne beim Blick nach oben keine Details mehr. Darum schweifen die Gedanken zurück zum Hier und Jetzt. Bis hin zum letzten Jahr. Zu jenem 31. Mai 2015 als ich erstmals was gespürt habe, da unten bei meinem linken Knie.
Ich sinniere darüber, was ich alles falsch gemacht habe. Was ich hätte besser können. Was ich besser gelassen oder noch wichtiger, besser doch getan hätte.
Es macht mich wütend. Es macht mich traurig. Es schmerzt.
Ich habe vielleicht sogar so viele falsche Entscheidungen getroffen, so viele Fehler gemacht, dass ich nie wieder in diese Situation gelangen werden, in der sich der Leistungssportler fragt „kann ich über diesen Schmerz hinwegsehen?“
Nicht, dass ich in genau diese sch**** Situation noch einmal kommen möchte. Doch ich möchte noch einmal in die Situation kommen, mir die Frage zu stellen, ob es Sinn macht, weiter zu laufen.
Ob es Sinn macht, kleine Schmerzen auf mich zu nehmen, um sich zumindest einen einzigen dieser vielen Kindheitsträume zu erfüllen.
Ob es Sinn macht, seinen Körper zu quälen für etwas, was einem persönlichen fast alles bedeuten würde.
Doch von dieser Sinnfrage bin ich weit entfernt. Vielmehr haben sich da diese anderen eingeschlichen.
„Macht es Sinn, weiter zu machen?“
„Macht es Sinn, ohne den Zeitpunkt zu kennen, noch einmal von vorne zu beginnen?“
„Macht es Sinn, sich alles noch mal anzutun, um dann am Ende vielleicht doch (erneut) zu scheitern?“
Nach endlosen Minuten des Sinnierens schlafe ich ein. Mit schmerzverzerrtem Gesicht.
Einige Tage später wache ich an der Copacabana auf. Mit schmerzverzerrtem Gesicht.
Ich bin als Fan – oder besser: „Olympia-Tourist“ – in Rio de Janeiro.
Ich sehe die Wettkämpfe. Erlebe den Spirit dieses trotz seiner vierjährigen Periodisierung irgendwie einzigartigen Sportevents. Sehe die Begeisterung bei SportlerInnen und ZuseherInnen.
Später an dem Tag erlebe ich sogar die Stimmung im Olympischen Dorf.
Und dann, der Britte würde sagen „all of a sudden“, sehe ich sie erstmals in natura: die Olympischen Ringe. Schwarz. Rot. Grün. Blau. Gelb.
Und urplötzlich weiß ich die Antwort auf all diese quälenden, schlafraubenden Fragen der letzten Wochen:
„Ja, ich will!“ – „ja, es macht Sinn!“
Es macht Sinn, weiter zu glauben. Es macht Sinn, weiter zu kämpfen. Es macht Sinn, weiter zu laufen.
Nach der Rückkehr aus Südamerika sind die Schmerzen jedoch immer noch da – der Glaube an die Sinnhaftigkeit, es noch einmal zu versuchen, aber zum Glück auch. Vorerst. Und täglich ein wenig kleiner werdend.
Zumal mir letzte Woche quasi auch noch „Alternativ-Training-Verbot“ erteilt wurde.
Aber ganz ehrlich: das ist jetzt auch schon egal.
Denn nun kann ich halt nicht mehr nur nicht vor meinen Sorgen weglaufen, sondern eben auch nicht davon Radfahren, Crosstrainern oder Schwimmen…