Und dann ist es wie immer …

Schon wieder einer. Schon wieder ein Spiegel.

Er hängt an der Wand. Nicht im Hotelzimmer. Auch kein Aufzug.

Der Spiegel hängt im Vorraum von unserer gemeinsamen Wohnung.

Das Spiegelbild zeigt mich. Angespannt. Ratlos. Überfordert.

Es zeigt aber auch mein Schuhregal. „Gezimmert“ aus Asics-Schuhkartons.

In den aufgeschnittenen Schachteln meine und Jennis Schuhe. Trainer, Racer, Spikes, Dauerlauf-Bock. Alles was das Läuferherz begehrt.

Und doch bin ich unschlüssig. Schließlich ist dieser Tag nun doch schneller da als gedacht. Dieser Tag, wo ich erstmals wieder meine Laufschuhe schnüren werde. Laufschuhe schnüren und loslaufen. So der Plan. Endlich…

Exakt 100 Tage sind seit Bilbao vergangen. Exakt 100 Tage ohne laufen. 100 Tage ohne meiner Passion.

Darüber wurden aber nun wirklich genügend Worte verloren, genügend Tränen vergossen. Schluss damit! Kein Trübsal blasen mehr. Denn heute, heute ist ein guter Tag!

Der Blick ist nun nach vorne gerichtet. Weg vom Spiegel. Hin zum Schuhregal.

Die Auswahl ist groß, die Entscheidung fällt schwer.

So lange mussten sie auf einen neuen Einsatz warten. Viel zu lange. Trotzdem weiß ich nicht, zu welchem Schuh ich greifen soll…

Mein Zögern hat jedoch nichts mit Schuh-Fetischismus. Es ist Ausdruck meiner Gefühlslage: ein großer Mix aus Vorfreude, Erleichterung, Anspannung, Unsicherheit, Nervosität, Angst…

Es ist eben wieder da, mein Laufen.

Viel schneller als gedacht.

Viel schneller als erhofft.

Ja, Gott verdammt, viel schneller als erträumt!

Und da ist eine mentale Überforderung wohl nicht gänzlich unangebracht. Doch nach erneute Minuten vor dem Spiegel mit dutzenden verschiedenen Gedankenspielen im Kopf dann endlich sinnvolle, zielgerichtete:

Nimm einfach deine Schuhe – irgendwelche. Ganz egal. Hauptsache ein linker und ein rechter. Am besten noch vom selben Modell.

Zieh sie an.

Nimm die Uhr ans Handgelenk.

Schlüssel in die Tasche.

Raus aus der Türe.

Die Stiegen hinab.

Raus auf die Straße.

Drücke „Start“!

Und dann nichts anderes als „links – rechts“ gefolgt von „links – rechts“.

Wieder und wieder. Ein Schritt nach dem anderen.

So einfach ist es!

Einfach Schritt für Schritt. Auf einen schwerfälligen Schritt folgt der nächste, mitunter noch schwerfälligere. Egal, weiter, immer weiter!

Schritt für Schritt, Minute für Minute.

Und dann, nach 26 Minuten ist es Gewissheit.

Ich kann es noch.

Ich mag es noch.

Ach was rede ich, ich find es einfach geil!

Und es hat mir so gefehlt!

Doch jetzt ist es eben wieder da. Mein Laufen. Schneller als gedacht, erhofft und geträumt. Einfach geil!

Und auf einmal wiegen 1600 Sekunden mehr als es 100 Tage jemals könnten.

Doch das schönste daran: es werden sicherlich keine 100 Tage sein, bis ich das nächste Mal vorm Spiegel unserer Wohnung stehe und mir überlegen darf, welchen Schuh ich heute eine Runde durch Wien ausführen darf!

Über Christoph Sander

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