Trauerjahr aka tu, was dich glücklich macht

Lange schon gibt es die nachfolgenden Zeilen als Entwurf. Etliches wurde überarbeitet, einige gestrichen – heute vieles zusammengeführt, um es einigermaßen lesbar zu machen. Die Veröffentlichung stand oft kurz bevor, wurde aber stets aus sich veränderten Gemütszuständen nicht vollzugen. Heute, am letzten Sonntag meines bald abgelaufenen 32. Lebensjahres habe ich mich final dazu entschlossen.

Wer mich gut kennt – oder als es hier noch mehr zu Lesen gab in vorangegangen Jahren gemerkt hat – weiß, dass die Veröffentlichungen hier für mich keinesfalls Selbstinszinierung oder jene meiner Leistungen zum Zweck hatten. Ich liebe es zu Schreiben – auch wenn mittlerweile oft Zeit (und Anlass…) fehlen.

Gleich ob aus purer Freunde oder tiefster Trauer und Enttäuschung versuch(t)e ich stets, ehrlich zu reflektieren und meine kleine Leserschaft an meinem Sportlerleben teil haben zu lassen. Mir war und ist Ehrlichkeit und Authenzität bei meinen Beiträgen immer wichtig – weswegen nicht nur die schönsten Seiten des Leistungssports, sondern eben auch die bittersten Niederlagen von mir Erwähung fanden und finden. Schließlich bin ich ganz bei Lord Seb Coe: „There is a truth to sport, a purity, a drama, an intensity […] in all Olympic sport, there is all that matters in life“.

Mein nun bald endendes Lebensjahr hatte einige persönliche Höhen, aber in erster Linie vor allem sehr viele Tiefen. An die Tatsache, dass ich an meinem Geburtstag in den letzten Jahren eher selten sportlich aktiv sein konnte, habe ich mich beinahe gewöhnt.

Die fast vier Monate ohne Laufschritt waren dann aber doch eine Art Neuland für mich, welches ich gerne als weißen Flecken auf meiner Landkarte belassen hätte.

Zumal ich in dieser Zeit letzten Herbst gleich mit zwei Mal mit einer Trennung umgehen musste, wobei gerade jene von meiner verstorbenen Großtante unvorhersehbare Spuren hinterlassen hatte. Niemals zuvor in meinem Leben hat mich der Tod eines geliebten Menschen so mitgenommen. Alleine der Gedanke an den Verlust und jene Zeit, treibt mir Tränen in die Augen…

An vielen Tagen wusste ich nicht wohin mit der Trauer. Je nach Verfassung stürzte ich mich in die Arbeit, suchte Ablenkung mit Freunden und Familie, feiern, langen Nächten – nur eines ging nicht, was mich zuvor oftmals in schweren Phasen meines Lebens gerettet hatte: davon laufen.

Einfach die Schuhe anziehen, die Tür hinter sich ins Schloss fallen lassen. Auf die Straße raus, und Schritt für Schritt, Meter für Meter zu sich finden. Ganz allein, ganz bei sich. Kilometer für Kilometer den Kopf durchblasen und fast immer ein bisschen glücklicher, freier, klarer als zuvor wieder zurückzukehren…

Tante Mine hat glaube ich nie verstanden, warum ich laufe. Warum ich so viel Zeit ins Training stecke, wenn ich dann – 70 Jahre jünger als sie – genau so „hatsche“ oder schwer vom Sessel hochkomme. Warum ich teilweise nur dank dem doppelten Espresso nach dem Training ihren Geschichten über Busreisen nach Nah-Ost oder in den hohen Norden, das Aufwachsen in der Zwischenkriegszeit, Leben in Wien während dem Nazi-Terror oder auch die für sie „goldenen Jahre“, wo sie als ledige Frau mit reichlich Urenkerl beschenkt wurde – und sich beispielslos um sie kümmerte, ohne jemals eine Gegenleistung zu verlangen – lauschen konnte.

Wofür das alles ist. Die ganze Lauferei. Die teuren Reisen. Die ganze Zeit, die man anderwertig nutzen hätte können, und all die Entbehrungen.

Aber wie es bei geliebten Menschen ist – sie unterstützen einen eben, gleich was sie davon halten. Weil man wohl auch tief in sich drinnen spürt, dass diese Sache, deren Sinn sich einem selbst nicht ergibt, dem Gegenüber wichtig ist – ja mitunter für ihn oder sie der tägliche Antrieb ist.

Meine Großtante war definitiv eine meiner größten Förderinnen und auf ihre Art und Weise auch eine einzigartige Stütze in meinem Leben. Mine war für mich und meine Brüder immer da. Half meinen Eltern wie glaube ich keine andere. Jede/r in unserer Familie hat ihr so viel zu verdanken, dass es jeder Beschreibung spottet.

Als sie im vergangenen Herbst dann mit fast 102 Jahren für immer einschlief, war es für sie sicherlich ein Segen nach einem langen und erfüllten Leben. Für mich war es hingegen wirklich wahnsinnig schwer.

Eine Phase wie der Abschied von Mine war seit ich denken kann eine dieser Situationen, wo ich früher Ablenkung im Sport, im Laufen gefunden habe. Meter für Meter zu mir kommen, sich ganz auf das Hier und Jetzt konzentrieren – oder gegenteilig vollkommen abschalten. Doch es sollte damals nicht sein.

Ich hatte zu diesem Zeitpunkt im Herbst so gut wie alles verloren, was mir wichtig war im Leben. Die größte Trauerphase meines Lebens, kein Sport um zu entkommen oder davon zu laufen brachte viele einsame Tage mit freiwilligen Überstunden zur Ablenkung…

Ob des dennoch so sehr hektischen Alltags mit Scholarbook, Vereinsarbeit etc. wollte ich dann wenigstens die Erinnerung an Tante Mine nicht auch noch verlieren…

Auf meinen dann ersten zaghaften Laufversuchen Mitte November wurde ich dann wie schon die Tage seit der Beerdigung von ihr begleitet. Ein Trauerflor am linken Oberarm half mir für in Summe 102 Tage – ein Tag für jedes ihrer Lebensjahre – dass die Erinnerung nicht so schnell verblassen und ich gleichzeitig meine Mine bei mir haben würde. Ich wollte sie auf meiner persönlichen Reise in meinem Trauerjahr bei mir haben – Tag ein, Tag aus.

Urplötzlich ging es wieder läufersich ein wenig bergauf und von Ende Dezember bis Anfang Februar, just 102 Tage nach der Beisetzung, konnte ich wieder davon laufen. Die Trauer war zweifelsfrei nie verflogen – nicht nur ob der Erinnerung auf meinem Arm. Psychologisch heißt es ja, man muss ein Lebensjahr mit all den wichtigen Tage à la Geburtstage, Feiern, Feiertagen etc. ein Mal durchleben, um abschließen zu können.

Ich ließ den Trauerflor fortan bis zu meinem x-ten Comeback im Rahmen von Laufen Hilft bei mir. Vor allem auch, weil ein paar Tage zuvor Mine ihren 102. Geburtstag gefeiert hätte.

Just ab Laufen Hilft kamen dieselben Beschwerden jedoch wieder, die mich bald 5 Monate später wieder nicht mehr davon laufen ließen.

Sehr oft habe ich in den vergangen Wochen, Monaten darüber nachgedacht, das Laufen ein für alle Mal sein zu lassen. Abstand davon zu nehmen. Hie und da rutschen mir auch schon Phrasen im Alltag oder gerade in meinem heiß geliebten Beruf wie „ich habe selbst 15 Jahre Leistungssport gemacht“ oder „ich war einmal Hindernisläufer“ raus. So, als ob ich längst mit dem Sport abgeschlossen habe…

Tief in mir drinnen spüre ich aber, dass ich es noch nicht habe.

Ich sehe die Trainingsgruppe meines Vaters und wünschte mir nichts mehr, als mit den Jungs über die Bahn oder Hauptallee zu fliegen.

Ich stehe als Meetingdirektor der Mid Summer Track Night im Infield beim 5.000er, brülle mir die Seele aus dem Leib und wünsche mir, wieder in einem solchen Rennen zu stecken. Die Anfeuerungen, die einem Gänsehaut bereiten und einem erlauben, über seine Grenzen zu gehen und sich selbst für viele einsame Stunden zu belohnen.

Ich hoffe instädnig, dass die anstehenden Arztvisiten in den kommenden beiden Wochen endlich einen Lösungsansatz für meine Probleme mit sich bringen, und ich dann ein möglicherweise (letztes) Comeback angehen darf.

Das Jahr der Trauer um ein erneut sehr laufarmes Lebensjahr ist in ein paar Tagen dann hoffentlich Geschichte. Ebenso wird es jenes ob meiner geliebten Mine sein. Wobei ich mir sicher bin, dass ich trotz all der persönlichen Enttäuschungen, negativen Erlebnissen und Trauerphasen weder mein 31. Lebensjahr – noch meine Tante jemals vergessen werde. Ich wünsche es mir sogar!

Und sobald dann wirklich beides zu Ende gegangen ist, wünsche ich mir nichts mehr, als mit ihr gemeinsam über die Feldwege und Straßen zu laufen.

Schritt für Schritt.

Meter für Meter.

Auch wenn es an diesem Tag X in der Zukunft nicht mehr nur für Mine keinen rationalen Grund mehr gäne, warum ich mir das alles noch antue. Warum ich wieder und wieder mit dem Laufen beginne. Ich davon nicht loskomme. Nicht loslassen will. Nicht loslassen kann. Ich denke, es ist wie sie bei einem unserer langen Gespräche gesagt hat: „Solange du glücklich bist, bin ich es auch. Also tu, was dich glücklich macht – ich muss es nicht verstehen.“

Über Christoph Sander

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